Das Virus ist der Feind, nicht der Mensch

Das Virus ist der Feind, nicht der Mensch

Die Pandemie ist vorbei, das Virus bleibt. Aus diesen drei Jahren Ausnahmezustand geprägt von Ungewissheit, sinnvollen und sinnlosen Maßnahmen, Warnungen, Mahnungen und Überspitzungen werden wir lernen und diese Zeit aufarbeiten müssen nicht zuletzt, um uns für zukünftige Pandemien oder Krisen besser vorzubereiten. Für die richtigen Schlussfolgerungen ist eine faire, ehrliche aber auch konsequente Aufarbeitung von Fehlern und Versäumnissen in der Corona-Krise, essentiell. Dabei geht es nicht um Anklage – es geht um Aufrichtigkeit, denn nur so können wir vermeintlich unversöhnliche Positionen wieder auf den nötigen Pfad eines offenen, diskussionsfreudigen und versöhnlichen Diskurses führen.

Lehren aus der Pandemie zu ziehen, braucht Zeit und Abstand, denn um eine ganzheitliche Bewertung zu treffen, müssen wir erkennen: die Pandemie ist mehr als die Summe ihrer Infektionen. Sie ist eine medizinische, politische und gesellschaftliche Herausforderung und wie bei jeder Medizin, müssen wir die Behandlung in der Gesamtschau der Wirkungen und Nebenwirkungen einordnen. Einiges haben wir aber bereits gelernt, was wir beim nächsten Mal besser machen können:

Interdisziplinäres Denken & Handeln

Das Management einer Pandemie hat nicht nur mit virologischer Expertise zu tun. In dieser Pandemie wurde bereits sehr früh deutlich, dass viele unterschiedliche Expertisen gefragt sind. Neben Virologen und Epidemiologen, braucht es vor allem auch Hygieniker, Soziologen, Psychologen, Kinderärzte, Kommunikationswissenschaftler, Wirtschaftsexperten und viele mehr die gemeinsam einen zivilen und offenen Diskurs leben. Es braucht von Beginn an einen Pandemierat, der die Regierung unabhängig und wissenschaftlich-fundiert berät. Wo es nicht um die einzelnen Stimmen oder Lagerdenken geht, sondern um eine Abwägung unter den unterschiedlichen Disziplinen. Die Grenzen der monothematischen Beratung liegen darin, dass eine optimale Lösung nur aus der Abwägung und Integration aller Fachgebiete errungen werden kann. Kein Experte ist Experte in allen Fachbereichen.

Klare Kommunikation auf Augenhöhe – zwischen Wissenschaft, Politik, Medien und Bevölkerung.

Es gab zu viel Alarmismus. Und zu häufig wurde aus Alarmismus politisches und mediales Kapital geschlagen, in einer Phase, in welcher alle Akteure hätten ehrlich, gradlinig und unkonfrontativ einen gesellschaftlichen Diskurs führen sollen. Es wurde und wird zum Teil unsachgemäß vor möglichen Eventualitäten gewarnt. Das sorgte für Verwirrung und schürt Ängste. Dabei wissen wir, dass Kampagnen, die auf Angst- und Panikmache oder Strafandrohung basieren, nur schwer zu einer langfristigen Änderung des Verhaltens führen. In diesem Sinne bedarf es einer Kommunikationsstrategie, welche die Ziele klar hervorhebt. 

Debattenkultur leben

Die Wissenschaft lebt von Diskussionen unterschiedlicher Positionen. Wir sollten nie mehr an einen Punkt kommen, wo Einzelne meinen, die Vielfältigkeit der Wissenschaft allein zu verstehen und urteilen zu können, was richtig oder falsch ist. Dass es eine polarisierte Lagerbildung der zugespitzten Meinungen gab, hat nüchterne, wissenschaftliche Perspektiven -und damit uns Wissenschaftler- in politische Lager zwangs sortiert. Ein Eingehen auf andere Positionen -oft auch auf verständliche Ängste und Sorge (man denke an die Impfdebatte) wurde zum politischen Statement. Als Gesellschaft müssen wir miteinander reden, auf andersdenkende und -fühlende zugehen und sie nicht abstempeln. Wir brauchen auch in der Pandemie eine gute Debattenkultur, getragen von Offenheit, ohne Hass auf Meinungen. Polarisierungen sind Gift für das politische Klima, reden hilft! 

Klares „Nein“ zur Diskriminierung

Zu Beginn von AIDS, waren es “die Homosexuellen”, bei COVID-19 waren es “die Chinesen”. Als die Pandemie mit dem Ausbruch in Heinsberg begann, wurden die Autos der Heinsberger zerkratzt, da man sie nicht in den anderen Städten sehen wollte. Dann waren die Feinde einige wenige Querdenker, die gegen die Masken demonstrierten und später war es die Tyrannei der Ungeimpften, die junge Politiker der Jugend beraubten. Das alles ist Diskriminierung und wir müssen uns alle an die Nase fassen, wo wir die Grenze überschritten haben. Der Feind ist das Virus aber nicht der Mensch, der es trägt. Auch die Schuld für Ausbrüche und Länge der Pandemie tragen keine einzelnen Akteure. Daher müssen wir beginnen auch in Krisen eine Sensibilität für Diskriminierung zu entwickeln egal welcher politischen Couleur man angehört. 

Vulnerabel sind nicht nur Ältere und Vorerkrankte, sondern auch Einsame und Ärmere! 

Das Coronavirus war vor allem für ältere Menschen oder Menschen mit Vorerkrankungen eine Gefahr für einen schweren oder gar tödlichen Verlauf. Für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ein hinnehmbares Risiko. Viele alte Menschen sind aufgrund schlechter Hygienekonzepte und fehlendem Schutz gestorben. Früh wurde von Hygienikern das Konzept der Kokonbildung propagiert, in dem man diese Menschen durch ein gefächertes Hygienekonzept besonders schützt. Engmaschige PCR-Testung der Bewohner und Beschäftigte, Hygienemaßnahmen, Unterteilung der Bewohner in Gruppen und später dann Impf- und Boosterkampagnen. Schutz von Risikogruppen sollte in jeder Pandemie ein besonderes Augenmerk haben. 

Gesundheitssystem muss zukunftsfähig werden

Wie schlecht unser Gesundheitssystem aufgestellt ist, wurde in der Corona-Krise offenbar. Es ist also höchste Zeit, dass man hier so schnell wie möglich fundamentale Reformen umsetzt – nicht zuletzt in Hinblick auf künftige Krisen. Patienten, Pflegende und Ärzte dürfen nicht die Leidtragenden verfehlter Gesundheitspolitik sein. Die Liste was zu tun ist, ist lang: Reform der Finanzierungsmodelle, eine grundlegende Effizienzsteigerung durch Digitalisierung, erhöhte Attraktivität für Gesundheitsberufe – auch für Fachkräftezuwanderung, Pflegemangel, Reform und Umstrukturierung des RKIs und der Gesundheitsämter und und und. Dies sind Probleme, die wir schon seit Jahren kennen. Diese Reformen sind ein steiniger Weg – das darf aber weder die Richtigkeit noch die Notwendigkeit dieser längst überfälligen Maßnahmen in Frage stellen.

Lehren zu ziehen, zeugt von einer guten Fehlerkultur. Wir müssen alle lernen – wir Wissenschaftler, wir Bürger und auch die Politik. Aber diese Lehren müssen uns zum Handeln bringen. Jetzt – nicht erst, wenn wieder Alarm herrscht.

Der gesamte Artikel finden Sie hier: https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus243775737/Hendrik-Streeck-10-Lehren-fuer-die-jetzt-faellige-Aufarbeitung-der-Corona-Pandemie.html

Und hier 

https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Das-Virus-ist-der-Feind-nicht-der-Mensch-444111.html